Steinhöfel, Andreas
Anders
Buch

„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen“ heißt es in jener Kantate von Johann Sebastian Bach, die sich auf unterschiedliche Seufzermotive, aber auch Tröstungen bezieht. „Ich hatte viel Bekümmernis; aber deine Tröstungen erquicken meine Seele.“ Zitiert wird die Kantate am Ende des Romans vom alten Stack, der an das Musikstück, das „seine Frau so sehr geliebt hatte“ denken muss, als sein Hühnerstall erneut abbrennt. Die beiden Brände dienen als Klammer des Romans. Sie markieren ein Davor (ein vor der eigentlichen Romanhandlung liegendes Ereignis, das diese aber zentral mitbestimmt) und einen finalen Showdown. Dem Feuer als Element der Überhitzung, der Zerstörung, aber auch der Reinigung und radikalen Selbsterkenntnis wird im Roman motivisch das Wasser zur Seite gestellt: Der Fluss (die Lahn) bestimmt nicht nur dessen Topografie, sondern markiert mit dem sogenannten „Erler Loch“ auch den Ort der Gefährdung und des Geheimnisses, den Ort, an dem Kindheit und Erwachsensein sich scheiden, den Ort, an dem aus der Todeserfahrung eine Art Neugeburt resultiert: Felix, aus dem zu Beginn des Romans ein anderer wird, wird hier wieder zu Felix. Nach dem grandiosen Erfolg seiner Rico und Oskar-Romane führt Andreas Steinhöfel, nunmehr ein Königskind, hier nicht nur motivisch von Berlin weg und zurück zu seinen frühen Büchern, sondern auch geografisch: Felix lebt in der Ulmenstraße, deren kleingeistiges Ambiente einst von den Schröder-Kindern aufgemischt wurde. (Paul Vier, so erfährt man hier, ist mittlerweile erwachsen und lebt in Berlin.) Man erinnere sich nur an jene Pissbombe, die auf Herrn Markowskis BMW geknallt ist … Nun, dicke Autos prägen immer noch das Leben in der Ulmenstraße – und eines von ihnen wird Felix zum Verhängnis: Felix, das kalkulierte Kind, wird von seinen Hubschraubereltern durch ein Zusammenspiel widriger Umstände ins Koma katapultiert. Das Mysterium eines in Primzahlen messbaren Lebens wird in der Anzahl der Koma-Tage fortgesetzt: „263 war eine Primzahl. Es war außerdem exakt die Anzahl jener Tage, die seine Frau vor elf Jahren mit Felix schwanger gewesen war.“ Die sich anbahnende Neugeburt nimmt sich die Zeit jenes Moratoriums, das die eigentliche Romanhandlung umfasst: Felix, von seinen Eltern einst einer Rangliste folgend benannt, beginnt sie mit einer Umbenennung: Während seine Mutter gerade Buntwäsche in die Waschmaschine stopft, gibt er – der nur noch das Schwarzweiße erträgt – bekannt, nunmehr Anders zu heißen. Dieser Anders scheint ganz aus Zeit und Raum gefallen. Seine retrograde Amnesie ermöglicht und erfordert die Neubestimmung seines Lebens aus unterschiedlichen Perspektiven. Auktorial gestaltet, folgt der Text unterschiedlichen Figuren und deren Erfahrungen mit Felix – „v.d.U.“ (vor dem Unfall) und danach. Nach und nach wird Felix’ Biografie zusammen- und in den Erfahrungen von Anders fortgesetzt: Anders’ gesamtes Sein lässt sich kaum noch einfügen in das Leben davor und legt dessen Störungen und Bruchlinien ungeschönt offen. Denn Anders ist ein kosmisches Wesen, das menschliche Charaktere an Farben erkennt, das Krankheiten und seelische Störungen sieht, das wie ein waidwundes Tier seine Umwelt erschnüffelt. Er selbst scheint jede Schutzschicht verloren zu haben, existiert nur noch aus Wahrnehmungen und Gedankenfluten. Formal mündet dieses Zuviel in jene drei Erzählebenen, die ineinander verwoben werden, wenn Anders sich der lockenden (ewigen) Ruhe des Erler Lochs hingibt – und mit dem Verweis auf den Verrat und die Rache der dort angeblich lebenden Nixe wohl auch gegen jene undefinierte Wildheit, ja sogar Gewaltfaszination angeht, die in ihm zu schlummern scheint. Wenn Engel als „Abgesandte“ definiert werden, kann Anders durchaus als ein solcher Abgesandter gelesen werden, dem die Gestaltung der Raumzeitlichkeit seiner eigenen Welt obliegt. Gebunden an seine personale Subjektivität (die Karl Rahner für Engel definiert) macht er (seelische) Wunden sichtbar. Doch erst als dieser Anders wieder zu Felix wird, und das Wissen beider Existenzen vereint, können die Verfehlungen des Davor bekannt und im kathartischen Gestus einer Gutmachung zugeführt werden. Andreas Steinhöfels Lust an kleinen Bösartigkeiten und intertextuellen Verweisen, an einer aus dem Miteinander unterschiedlicher Textsorten resultierenden Komik und Spannung, werden hier zusammengeführt mit jenem durchkomponierten Erzählen, aus dem eine so komplexe Figur wie Anders erst entstehen kann. Die sich nicht nur einschreibt in ein zuletzt mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnetes Oeuvre, sondern ihm einmal mehr eine ganz neue Richtung gibt.


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Personen: Steinhöfel, Andreas Schössow, Peter

J Stei

Steinhöfel, Andreas:
Anders / Andreas Steinhöfel. Mit Bildern von Peter Schössow. - Hamburg : Königskinder, 2014. - 235 S. : Ill.
ISBN 978-3-551-56006-3 fest geb. : ca. € 17,40

Zugangsnummer: 2015/0047 - Barcode: 2-2051105-8-00002084-8
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Buch