Am Ende der 74. Hungerspiele findet im ersten Teil jener Trilogie, die der Dystopie zu neuer Wirkmächtigkeit im jugendliterarischen Kanon verholfen hat, ein erstes Aufeinandertreffen von Katniss und Präsident Snow statt. Der despotische Regent von Panem bricht dabei die nur für einen Sieger gedachte Krone entzwei. „Als er die zweite Hälfte auf meinem Kopf platziert, lächelt er immer noch, aber seine Augen, nur ein paar Zentimeter entfernt, sind so unversöhnlich wie die einer Schlange.“ Erzählt ist die Trilogie aus der Perspektive von Katniss und damit aus jener der unterdrückten Bewohner_innen der Distrikte, die sich unter Lebensgefahr zu neuem Widerstand gegen das Kapitol entschließen. Im Sinne dieser Erzählhaltung wird Präsident Snow zum Inbegriff eines absolutistischen Regimes; ja mehr noch – er personifiziert dieses unmenschliche und perfide politische System. Mit dieser rezeptionsästhetischen Haltung begegnet man dem jungen Mann und zukünftigen Präsidenten nun neu und weiß bereits, dass ihm an keiner Stelle des Romans zu trauen ist. Man beobachtet daher mit Abscheu, aber durch seine Ich-Perspektive eben auch durchgehend in die Ereignisse involviert, wie er sich einer Schlange gleich durch die Ereignisse windet. Züngelnd. Vorerst aber wird die Schlange, die sich motivisch durch den gesamten Roman zieht und in der amerikanischen Originalausgabe auch als durchgehendes grafisches Buch-Gestaltungsmoment genutzt wird, der weiblichen Hauptfigur zugeordnet: Lucy Gray ist Tribut aus Distrikt 12 bei den 10. Hungerspielen. Wie der erste Teil der Trilogie setzt auch diese Episode I am Tag des Reapings ein. Erstmals gibt es in der hier noch verhältnismäßig kurzen Geschichte der Hungerspiele eine Neuerung: Die Tribute werden von Mentor_innen betreut, allesamt Schüler_innen der Akademie, der vornehmsten weiterführenden Schule des Kapitols. Unter ihnen Coriolanus Snow, Sprössling einer Elite-Familie, der mit erheblichem Aufwand die völlige Verarmung der Familie zu verbergen sucht. Seine Enttäuschung darüber, das unattraktivste aller Tribute (Distrikt 12 und dann auch noch das Mädchen) zugeteilt zu bekommen, ändert sich mit Lucy Grays Auftritt beim Reaping. Denn das selbstsichere Mädchen entstammt einer Art Folk-Band und weiß sich mit ihrer musikalischen Begabung entsprechend zu präsentieren. Coriolanus wittert die Möglichkeiten, sich dieses Talent der Inszenierung zunutze zu machen. Zumal die Spieleleiterin Dr. Gaul nach neuen Möglichkeiten sucht, die bisher nur als rauhes Kampfgetümmel in einem verfallenen Steinareal ausgetragenen Spiele attraktiver und medienwirksamer zu gestalten. Der mit Strategie und Rücksichtslosigkeit im Übermaß begabte Coriolanus weiß deutliche Impulse zu setzen und dabei politische Diskurse über Macht nicht nur zu führen, sondern immer auch zu seinen Gunsten zu deuten. Geprägt wird sein Erzählen durch eine permanente, introspektive Einschätzung der eigenen Situation und der ihm (nicht) zur Verfügung stehenden Mittel. Er reflektiert und bewertet jede Situation ständig neu und richtet sein Auftreten und Handeln danach aus – ohne die kleinste Möglichkeit auszulassen, zu seinem persönlichen Vorteil zu agieren. Im Sinne der Textdramaturgie wird er dabei durch ständige kleine und größere Rückschläge herausgefordert. Doch: „Snow landet immer oben.“ („Snow lands on top.“) Dennoch ist da diese Sache mit den Spotttölpeln (mockingsjays), die ja schon in der Trilogie in Opposition zu Präsident Snow standen; ihnen werden hier Schnattertölpel (jabberjays) hinzugefügt, mutierte Abhör-Vögel des Kapitols. Der Songbird im Titel des amerikanischen Originals („The Ballad of Songbird and Snake“) erhält damit eine mehrfache Bedeutung: Er singt; im Sinne eines Verrräters genauso wie im Sinne jener Balladen von Lucy Gray, deren lyrics den Text durchziehen. „Strange things would happen here“ heißt es in der Ballade vom Hanging Tree, die durch die filmische Adaption der Trilogie zum musikalischen Trigger der neuen Rebellion wurde. Hier markiert sie die Sehnsüchte eines Mädchens das im Zentrum der Frage steht, ob Coriolanus Snow auch hier (und damit erstmals) von einem Tribut aus Distrikt 12 gemockt wird. Oder ob sein Selbstbild des Missachteten ihm nur Anlass zu ersten und damit immer weiteren, drastischen Handlungen gibt.
Serie / Reihe: Die Tribute von Panem
Personen: Collins, Suzanne Hachmeister, Sylke Klöss, Peter
J Coll
Collins, Suzanne:
¬Die¬ Tribute von Panem : das Lied von Vogel und Schlange / Suzanne Collins. Dt. von Sylke Hachmeister und Peter Klöss. - Hamburg : Oetinger, 2020. - 607 S. - (Die Tribute von Panem; Bd. 4)
ISBN 978-3-7891-2002-2 fest geb. : ca. € 26,80
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Buch